Hass und geniale Kreativität - im anarchischen Webforum 4chan findet sich beides. An diesem finsteren Ort nahm die Web-Bewegung Anonymous Fahrt auf. Wie das passieren konnte, erzählt das SPIEGEL-ONLINE-Buch "We are Anonymous". Ein Auszug über Katzenbildchen, lulz und Diamanten.

Eigentlich spricht man nicht über /b/, so will es eine inoffizielle Regel. Aber um den Anfängen von Anonymous nachzuspüren, müssen wir eine Ausnahme machen. Es gibt wohl keinen anderen Ort im Internet, an dem Genialität und Grauen so nah beieinanderliegen. Obwohl jeder leicht an diesen Ort gelangen kann, verirren sich vergleichsweise wenige dorthin. Zum Glück, könnte man sagen. Man möchte seinen Eltern beispielsweise nicht dazu raten, die Adresse 4chan.org/b/ mit dem Webbrowser anzusteuern. Es würde sie verstören, ratlos und angewidert zurücklassen, was dort ständig auftaucht und schnell auch wieder verschwindet.

Eine Momentaufnahme aus 4chan: Das Ultraschallbild eines Babys, eine Meerjungfrau mit blauer Haut und Elfenohren, jede Menge Pornobilder - nicht wenige mit halbtoten Oktopoden. Das Foto eines Fleischwolfs, dazu der Text "This is a Fleischwolf. It wolfes Fleisch." Anime-Bildchen von Mädchen in Schuluniform, krakelige Zeichnungen mit kryptischen Texten. Das Angebot, jemanden ausfragen zu können, dessen Genitalwarzen gerade vereist wurden. So sieht ein ganz normaler Tag auf /b/ aus, einem von rund 50 Unterforen des millionenfach abgerufenen Forums 4chan. Nutzer können dort Texte oder Bilder einstellen, ganz ohne Anmeldung, standardmäßig anonym, statt eines Namens wird als Autor eines jeden Beitrags "Anonymous" aufgeführt. Andere Nutzer kommentieren die Beiträge oder tragen eigene Bilder bei.
4chan ist die Quelle von Anonymous, einer heute internationalen Bewegung, die Regierungen herausfordert, von Ermittlungsbehörden gejagt wird, die sich mit Drogenkartellen anlegt und Großkonzerne das Fürchten lehrt. Das alles begann im täglichen, anarchischen und manchmal auch sehr lustigen Chaos von 4chan. Ja, lustig kann 4chan auch sein. Da wären zum Beispiel die Lolcats - niedliche Katzenfotos mit absurden Sprüchen und möglichst vielen Grammatikfehlern. "I Can Has Cheezburger?" ist das bekannteste. Das Bild zeigt eine niedliche, etwas pummelige graue Katze, die arglos in die Kamera zu lächeln scheint, kombiniert mit diesem Satz in schiefem Englisch, auf das Bild gesetzt in kräftigen weißen Großbuchstaben.

Für diese Art der Kulturverbreitung über Weitergabe und Remixe hat sich der Begriff Mem etabliert. Den Begriff hat der Biologe Richard Dawkins einst erfunden, um seine These von den "egoistischen Genen", die sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch fortpflanzen möchten, auf Ideen auszuweiten. Ein Mem ist Dawkins zufolge ein Gedanke, ein Konzept, eine Theorie, die sich von Kopf zu Kopf fortpflanzt. Je haftender, je widerstandsfähiger und je fortpflanzungsfähiger sie ist, desto größer ist ihre Überlebenschance. Der Katholizismus ist demnach ein Mem - ein besonders mächtiges - aber auch der Gedanke, dass alle Menschen gleich und frei geboren sind, Verschwörungstheorien ebenso wie die leicht surrealen running gags, die 4chan am laufenden Band hervorgebringt.

Gegründet wurde 4chan von einem Teenager in den USA - aus Langeweile. Christopher Poole hatte in seinen Sommerferien im Jahr 2003 japanische Anime-Serien entdeckt - und 2chan, ein in Japan populäres Image-Board, ein Webforum, in dem vor allem Fotos veröffentlicht werden. Dort treffen sich Otakus, die japanischen Pendants zu Nerds, fanatische Anhänger von Comicserien. 2chan wiederum ist der Nerd-Ableger von 2channel, einem noch viel populäreren japanischen Forum. Dort wird anonym über so ziemlich alles diskutiert - offen und ehrlich, was in der Öffentlichkeit in Japan in dieser Form verpönt wäre. Im Schutze der Anonymität können traditionelle Rollen und gesellschaftliche Tabus einfacher gebrochen werden. Poole hatte das Spin-off für Otakus entdeckt. "Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen", sagte er der "New York Times" in einem Interview. Vor allem die schnelle Abfolge von Beiträgen beeindruckte den damals 15-Jährigen. "Man konnte sich hinsetzen und die Seite im Browser aktualisieren und immer neues Zeug sehen."
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